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Gänsedämmerung
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Gänsedämmerung
Die folgende Geschichte ist wahr. Sie hat sich in einem Stadtpark in Bayern so ereignet. Sie könnte aber so oder so ähnlich an jedem beliebigen anderen Ort der Nordhalbkugel - dem Verbreitungsgebiet der Gänse - stattfinden oder stattgefunden haben.
Die Geschichte wurde 2010 in der Zeitschrift
Naturblick
veröffentlicht.
Der erste Sonnenstrahl des Tages, einer der letzten in jenem Herbst, quält sich durch schütteres Laub der Bäume und trifft wärmend auf die nachtstarren Glieder der Gänse im Park. Die Stimmung ist friedlich, aus der Ferne nur dröhnt über den See der dumpfe Lärm der erwachenden Stadt. Doch Magnus, eine der knapp 100 Graugänse, die hier leben, ist wachsam. Er und seine Lebensgefährtin Martha sind das einzige Graugans-Brutpaar an jenem See, dem es in diesem Jahr gelungen ist, seinen gesamten Nachwuchs großzuziehen, während die übrigen fünf Brutpaare alle ihre Jungen bis auf jeweils eines verloren haben. Dies ist auch Magnus' Aufmerksamkeit zu verdanken, und noch bewacht er herrisch seine Familie, auch wenn der Nachwuchs bereits seit Monaten fliegen kann. Da sind zwei kräftige Söhne, Darius und Damon, die fast schon so groß sind wie ihr Vater. Der dritte Sohn Domenik ist noch etwas kleiner, und Dana, die einzige Tochter, kann niemals so groß werden wie der Vater, sie soll so zierlich bleiben wie ihre Mutter Martha.
Magnus läßt niemanden in die Nähe seiner Familie. Ganz besonders nicht Lenard, einen anderen Grauganter, der in etwas Abstand neben seiner Partnerin ruht. Als Magnus und Martha noch jung waren, hatte auch Lenard ein Auge auf Martha geworfen. Martha hatte sich für Magnus entschieden, aber vergessen hat Magnus den Konkurrenten nicht.
Unweit der Familie liegen auch Magdalena und Theresa mit ihren Gefährten, es sind die zwei Jahre älteren Schwestern von Darius, Damon, Domenik und Dana. Auch sie dürfen sich noch nicht zu dicht nähern; Magnus ist noch nicht so weit für eine Familienzusammenführung. Die Schwestern haben auch einen Bruder, Maximilian, doch dieser hat den See verlassen, um anderswo zu heiraten.
Magnus bemerkt, wie sich Menschen von hinten nähern. Aufmerksam beobachtet er das Geschehen - Menschen sind nichts ungewöhnliches für die Gänse, sie sind den täglichen Kontakt mit ihnen gewohnt. Doch plötzlich ertönt ein lauter Knall - Lärm. Die Gänse erschrecken und fliegen mit lautem Rufen auf. Magnus ruft seine Familie zu sich, und auch die übrigen Gänse rufen, um mit ihren Familienmitgliedern in Kontakt zu bleiben. Doch dann knallt es von allen Seiten. Der See ist umstellt von grün gekleideten Menschen, ohne daß die Gänse es in der Stille des Morgens bemerkt haben. Überall knallt und donnert es - Schüsse von allen Seiten. Magnus ruft laut nach seiner Familie, während er versucht, an Höhe zu gewinnen. Doch in dem Lärm, dem andauernden Knallen der Schüsse und Schreien der Gänse - Kontaktrufe der Familien durchmischt mit Angst- und Schmerzschreien getroffener Tiere - hören sich die Gänse nicht mehr. Nur Darius und Damon fliegen noch dicht bei ihrem Vater, da erhält Magnus einen Schlag, der ihm die Sinne nimmt. Wie ein Stein stürzt er ins Wasser hinunter. Auch Darius und Damon sind getroffen, aber nur von gestreutem Schrot. Unter Angstrufen fliegen sie weiter, und verlieren sich rasch aus den Augen.
Damon hat es den Luftsack zerrissen, bei jedem Atemzug ertönt ein pfeifendes Geräusch. Mit letzter Kraft fliegt er noch einige hundert Meter weiter in den Park hinein, bis er atemlos in Buschwerk stürzt. Hier bleibt er regungslos liegen. Etliche, zähe Stunden wird es dauern, bis er endgültig erstickt ist.
Darius ist nicht so schwer getroffen. Ihm sitzt ein Bleischrot im Brustmuskel, der ihm schon nach kurzer Zeit die Kraft raubt. Unerfahren, wie er im Alter von wenigen Monaten ist, fliegt er in einen fast entlaubten Baum - und bricht sich einen Flügel.
Martha hat sich zusammen mit einigen anderen Gänsen an einen anderen See in einem anderen Park der Stadt gerettet. Von den dort lebenden Graugänsen werden sie nicht unbedingt freundlich begrüßt. Martha beachtet sie nicht, auch Lenard, der ebenfalls hierher floh, beachtet sie nicht. Sie läuft umher und ruft nach ihrer Familie, nach ihrem Lebensgefährten und nach ihren Kindern. Doch von denen ist keiner in der kleinen Gruppe der Ankömmlinge.
Nach einem kurzen Bad im See - schließlich hatte sie noch keine Morgentoilette - fliegt sie zurück an den Ort des Geschehens. Inzwischen ist später vormittag und es herrscht wieder Ruhe. Der Park ist bevölkert von friedlichen und ahnungslosen Spaziergängern. Einer von ihnen hat den angeschossenen Darius gefunden. Der herbeigerufene Tierarzt entschließt sich, ihn einzuschläfern.
Martha weiß von alledem nichts. Sie sucht die Orte auf, an denen sie sich gewöhnlich mit ihrem Partner und den Kindern aufgehalten hat. Sie ruft nach ihnen, aber vergeblich. Magnus liegt zu diesem Zeitpunkt schon in einer Kühltruhe, Damon wenige hundert Meter entfernt im Gebüsch - unfähig, einen Laut von sich zu geben. Das Schicksal von Domenik und Dana bleibt für immer im Dunklen, auch sie findet Martha nicht wieder.
Tagelang ist sie nervös, läuft immer wieder umher und ruft nach ihrer Familie, unterbrochen von Phasen, in denen sie vor sich her starrt, um dann wieder aufzuschrecken und umherzulaufen. Nach einigen Tagen siegt der Zustand der Erstarrung. Wenigstens die älteren Töchter und ihre Partner haben überlebt. Aber das hilft Martha auch nicht weiter.
Besser wird es erst, als sie Lenard wiedertrifft. Auch er hat seinen Lebenspartner verloren. Als er Martha verlassen sieht, wirbt er - zunächst zaghaft, später deutlicher - um ihre Gunst. Ein halbes Jahr nach Magnus' Tod willigt Martha ein.
Einige Jahre später:
Lenard hat sich als fürsorgender und treuer Lebenspartner für Martha erwiesen. Das ist selbst für Gänse nicht selbstverständlich, denn seit Magnus den Tod fand, hat Martha eine Behinderung am Bein und humpelt. Wodurch sie sich am Bein verletzt hat, ließ sich nicht genau nachvollziehen.
Gelegentlich werden dauerhaft erkrankte Gänse von ihren Partnern verlassen. Das kommt Lenard jedoch nicht in den Sinn. Allerdings hat er nicht den Schneid eines Magnus, sich mit den Gantern anderer Paare auseinanderzusetzen, zum Beispiel wenn es um die Vergabe der wenigen Brutplätze geht. Die erfolgreiche Phase in Marthas Leben ist daher vorbei. Mit Lenard lebt sie zurückgezogen am Rande des Parks.
Trotzdem ist ihre Erfolgsgeschichte noch nicht gänzlich zu Ende. Denn ihre ältesten Kinder sind inzwischen alt genug, um sich der starken Konkurrenz um die Brutplätze zu stellen. Die Wege der Schwestern Magdalena und Theresa haben sich weitestgehend getrennt. Als Schwesternpaar sind sie nicht stark genug, um einen eigenen Familienverband zu begründen, dazu bräuchten sie mindestens zwei weitere Geschwister. Also haben sie sich den Familien ihrer Partner angeschlossen. Zumindest Magdalena traf dabei eine glückliche Wahl: sie hat einen Brutplatz ergattern können.
Nur darf sie - von vornherein - nur zwei Junge aufziehen. Die Gesellschaftsjagden im Park, denen ihr Vater zum Opfer fiel, sind inzwischen verboten. Dafür hat man sich etwas anderes ausgedacht. Während der vierwöchigen Brutzeit suchen Menschen die Nester auf und bohren mit Akkubohrern die Küken in den Eiern tot. Zwei Eiern pro Gelege bleibt diese Prozedur erspart. Da eh viele Gössel sterben, bevor sie ins flugfähige Alter kommen, laufen darum die meisten der fünf diesjährigen Graugans-Elternpaare bald nur noch mit einem Jungtier durch den Park.
Magdalena und ihr Partner werden die einzigen sein, die es schaffen, beide Gössel aufzuziehen. Aber zwei Jungtiere sind wiederum zu wenig, um einen starken Familienverband zu begründen. Darum werden auch diese Geschwister sich trennen, um sich anderen Familiengruppen anzuschließen. Im Idealfall finden sie einen Partner, der viele Geschwister hat. Im Kampf um die Brutplätze sowie bei der Jungenaufzucht sind diese Geschwister dann von Vorteil. Doch gibt es solche Großfamilien im Park bald nicht mehr.
Denn auch im nächsten Jahr ereilt die Graugänse am See dasselbe Schicksal. Wieder werden die Gelege angestochen. Diesmal überlebt nur ein einziger Gössel im Park die Behandlung - es ist ein Kind von Magdalena. Bis zum Flüggewerden betreut sie das Junge mit ihrem Lebenspartner.
An einem Hochsommertag kommt ein ungewöhnlicher Gast in den Park. Es ist ein Falkner, der mit fremdländischen Greifvögeln versucht, die Gänse vom See zu vertreiben. Bei dem Versuch, ihrem Nachwuchs zur Seite zu stehen, wird Magdalena schwer verletzt und anschließend getötet. Der Vater wird versprengt. So findet das bis dahin jüngste Enkelkind von Martha - seiner Eltern zu früh beraubt - ebenfalls den Tod.
Die Mehrzahl der Gänse floh beim Auftauchen des Greifvogels, kehrt jedoch kurz nach Abfahrt des Falkners, ähnlich wie damals Martha nach dem Verlust ihres ersten Partners, in den Park zurück. Daß es Magdalena und dem einzigen Nachkommen des Jahres das Leben gekostet hat, berührt die meisten von ihnen nicht. Nach dem Schrecken und dem unfreiwilligen Ausflug sind sie hungrig, fallen über die gepflegten Parkwiesen her und baden ausgiebig. Zu diesem Zeitpunkt feiern anderswo ein paar Leute die erfolgreiche Vertreibung der Gänse...
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Nachtrag:
Ich tat Lenard unrecht, als ich diese Geschichte niederschrieb. Sechs Jahre nach Magnus starb auch Martha - möglicherweise ebenfalls an Spätfolgen der Jagd. Lenard wählte sich eine neue Partnerin, mit der er zwei Jahre nach Marthas Tod zum ersten Mal in seinem Leben Nachwuchs hatte. Leider starb er noch während der Brutzeit, seine beiden Jungen wurden höchstwahrscheinlich von seiner Witwe und einem anderen Ganter aufgezogen und verloren sich danach - da sie nicht beringt wurden - in der Anonymität.
Theresa, die Nestschwester von Magdalena, brütete zwei Jahre nach Magdalenas Tod erfolgreich und brachte zusammen mit ihrem Partner von sieben Gösseln vier über das erste Lebensjahr. Es war die einzige erfolgreiche Brut mit diesem Partner, der vier Jahre später starb. Theresa brauchte ein gutes Jahr, um wieder einen Partner zu finden, mit dem sie schon in der folgenden Brutsaison erfolgreich brütete und ein Junges (von drei) aufzog. Bisher waren dies ihre einzigen erfolgreichen Bruten. Der Nachwuchs wurde jeweils nicht beringt und ist heute nicht mehr identifizierbar.
Wenn Sie Theresa kennenlernen möchten, kommen Sie einmal mit auf eine der von mir angebotenen Führungen.
Fotos von oben nach unten: Silke Sorge: Titel Theresa wacht über die Familie, wenn ihr Partner frißt, 1 Magnus mit Gössel, 2 Martha mit Gösseln, 3 Magnus (l.) und Martha (r.) mit Damon, Darius, Dana und Dominik, 4-6 Martha sichert, während Magnus überwacht, daß alle Familienmitglieder unbeschadet das Wasser verlassen, 7 Martha mausert bevor ihre Sprößlinge flügge werden, 8 Theresa mit Gösseln, 9 Theresa (l.) und ihre Familie, zwei Jahre nach dem Tod ihrer Schwester Magdalena, 10,11 HUWagner: Lenard wacht über seine Familie, wenige Wochen vor seinem Tod
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